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Spieglein, Spieglein an der Wand…

Editorial 09/2015
von Gernot Kanduth

Wer kennt es nicht, das berühmte Märchen der Gebrüder Grimm über die schöne, aber eitle und böse Königin,
die sich von einem allwissenden Spiegel regelmäßig ihren Anmut bestätigen lässt, es aber nicht aushält,
als ihr dieser erklärt, ihre Stieftochter Schneewittchen sei „tausendmal schöner“ als sie.
An das Thema dieser Erzählung fühlte ich mich unlängst erinnert, als ein befreundeter Rechtsanwalt im Gespräch
die Meinung vertrat, es gebe keine Berufsgruppe, die Kritik so wenig ertrage wie „die der Lehrer und
die der Richter“.
Die Frage, ob dieser pauschale Vorwurf berechtigt ist, beschäftigte mich auch nach dieser – übrigens durchaus
friedlich und keinesfalls vergiftet geführten – Diskussion. Vermitteln wir tatsächlich den Eindruck, unempfänglich
für kritische Resonanz auf unsere Tätigkeit zu judizieren? Führt die Notwendigkeit, tagtäglich über
das Verhalten anderer urteilen zu müssen dazu, für sich selbst das Privileg in Anspruch zu nehmen, sakrosankt
zu sein? Ist der Ratschlag, Berufungsbeantwortungen genau, Berufungen jedoch bestenfalls oberflächlich
zu lesen, nicht nur ein gut gemeinter Tipp zur Stärkung des Selbstbewusstseins der in erster Instanz
tätigen Richterinnen und Richter, sondern vielmehr Ausdruck einer – vielleicht sogar institutionalisierten –
Unzugänglichkeit für Kritik? Wird Justitias Augenbinde als Scheuklappe gegen eine analytische Auseinandersetzung
mit der eigenen beruflichen Tätigkeit missverstanden?
Eine Untersuchung, ob diese Vorwürfe berechtigt sind, zeigt zunächst, dass sich unser Berufsstand – wie kaum
ein anderer – einer Vielzahl an Kontrollinstrumenten stellen muss:
Dienstaufsicht und innere Revision verfolgen den gesetzlichen Auftrag, bei festgestellten Qualitäts- oder
Effizienzmängeln tätig zu werden; Rechtsmittelgerichte decken Fehler der Unterinstanzen auf und bieten
dadurch Gewähr für die Rechtmäßigkeit von Entscheidungen; der alljährliche Wahrnehmungsbericht des
Österreichischen Rechtsanwaltskammertages nimmt für sich in Anspruch, „Initiator für Verbesserungen auf
dem Gebiet der Rechtspflege und Verwaltung zu sein und aufzuzeigen, wo es Fehler und Defizite zu beheben
gilt“ und nennt Beispiele für von Rechtsanwälten im gesamten Bundesgebiet beobachtete Auffälligkeiten;
die Kommission des Europarates für die Effizienz der Justiz erstattet regelmäßig Berichte, die maßgebliche
Parameter zum Standing der österreichischen Justiz im internationalen Vergleich auflisten; Medien wachen
als „public watchdog“ mit Argusaugen vor allem über Verfahren im Interesse der Öffentlichkeit, ziehen aus
Anlassfällen oft verallgemeinernde Schlüsse auf das gesamte Justizwesen und scheuen dabei selten abwertende
Kommentare; als mediale Begleiterscheinung bieten Diskussionsforen jedermann eine Gelegenheit,
ungefiltert seine Meinung zu gerichtlichen Verfahren – nicht selten gepaart mit beleidigenden Kommentaren
über das jeweilige Entscheidungsorgan – kund zu tun.
Aber auch standesintern laufen derzeit mehrere Projekte, die sich mit dem Erkennen und der Behebung von
Optimierungsmöglichkeiten – im weiteren Sinn also mit der Artikulierung und gewinnbringenden Verarbeitung
von Kritik – befassen:
Das vom Bundesministerium für Justiz im September 2014 begonnene Projekt „Qualität in der Justiz“ setzte
sich als Ziel, „eine dynamische Bewusstseinsbildung“ für allgemein gültige Qualitätskriterien zu fördern; bereits
in zwei Bundesländern (Steiermark und Oberösterreich) wurde das Projekt „Peer Support“ durchgeführt,
das sich der „strukturierten kollegialen Reflexion richterlichen Handelns in Verhandlungssituationen“widmet
und bei dem sich Kolleginnen und Kollegen wechselseitig auf „eigene blinde Flecken“ aufmerksam machen
(ausführlich dazu: RZ 01/15, Seiten 2 ff); neben weiteren regionalen Veranstaltungen, die dem sachlichen Austausch
mit beruflichen Rechtsanwendern gewidmet sind, muss zuletzt die aktuelle Diskussion um die Installierung
eines Ethikrates zur weiteren Etablierung der Welser Erklärung auch als Signal zur Bereitschaft verstanden
werden, sich einem sachlichen Diskurs zur Konformität richterlichen Verhaltens mit ethischen Grundwerten
zu stellen.
Aus den genannten Beispielen lässt sich belegen, dass richterliches Handeln aus vielen Blickwinkeln wertend
analysiert wird und damit auch ausreichend Werkzeuge zur Selbstreflexion zur Verfügung stehen und
fortentwickelt werden. Allerdings müssen diese Möglichkeiten von jedem Einzelnen genutzt werden, um zu
verhindern, dass der eingangs beschriebene Eindruck entsteht. Selbst ein allwissender Spiegel lässt nicht
erkennen, welche Anstrengungen notwendig sind, um dem rechtsstaatlichen Anforderungsprofil an unseren
Berufsstand zu entsprechen, wenn der Einzelne nicht hinein schaut.
Die böse Königin übrigens, der nicht gefiel, was ihr der Spiegel mitteilte, jedoch nicht bei sich selbst ansetzte,
um Verbesserungen herbeizuführen, musste letztlich in „rotglühende Schuhe treten und so lange tanzen, bis
sie tot zur Erde fiel.“

Veröffentlicht am: 14. Sep. 2015

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