Offener Brief zu aktuellen Medienberichten über Besetzungsverfahren von Leitungspositionen in der Gerichtsbarkeit
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
sehr geehrter Herr Vizekanzler,
sehr geehrte Mitglieder der Bundesregierung!
Medienberichte der letzten Wochen zeichnen ein Bild, wonach bei der Besetzung von Leitungspositionen in der Gerichtsbarkeit nicht allein fachliche Eignungskriterien, sondern auch parteipolitische Kalküle mitentscheidend sein können.
Als Standesvertretung lehnen wir parteipolitische Erwägungen in Besetzungsverfahren ab. Die Entscheidung über die Ernennung auf alle richterlichen und staatsanwaltschaftlichen Stellen soll sich ausschließlich an der Eignung der Bewerber*innen für die angestrebte Position orientieren. Dies sichert nicht nur die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit, sondern ebenso deren Akzeptanz in der Bevölkerung und damit den Wirtschaftsstandort Österreich. Allein schon der Anschein von Abhängigkeit oder Parteilichkeit schadet diesen Zielen und damit dem Rechtsstaat.
Deshalb sollte bereits jeder Anschein einer Möglichkeit, aus parteipolitischen bzw unsachlichen Erwägungen Einfluss auf solche Besetzungen nehmen zu können, strukturell ausgeschlossen und die Rolle unabhängiger Kollegialorgane bei allen Bestellungsvorgängen in der Gerichtsbarkeit gestärkt werden. Konkret fordern wir, dass allen richterlichen Ernennungen – insbesondere auch der Bestellung der Präsident*innen und Vizepräsident*innen des Obersten Gerichtshofs sowie der Präsident*innen und Vizepräsident*innen der Verwaltungsgerichte – verbindliche Besetzungsvorschläge richterlicher Gremien vorangehen und auch das Übernahmeverfahren in den richterlichen Vorbereitungsdienst in den Kompetenzbereich der unabhängigen Personalsenate übertragen wird.
An der Ausarbeitung entsprechender Umsetzungsmaßnahmen wirken wir gerne mit.
Wien, am 01.02.2022
Mag. Sabine Matejka Dr. Martin Ulrich
Präsidentin Vorsitzender
Offener Brief