11/2025: Gernot Kanduth „Weshalb Rechtsstaat?
Am 20. und 21. November 2025 findet in Wien der Tag der Richterinnen und Richter statt – eine Festveranstaltung, die sich nach den Satzungen der Vereinigung zentralen Fragen rund um Rechtsstaat, Gerichtsbarkeit und richterliche Unabhängigkeit zu widmen hat. Als wir uns vor fast zwei Jahren dazu entschlossen, die heurige Tagung der Frage zu widmen, wie sich das Bewusstsein für den Wert rechtsstaatlicher Prinzipien und einer unabhängigen Justiz in der Bevölkerung nachhaltig stärken lässt, war nicht absehbar, welche Relevanz diesem Thema gegenwärtig zukommt. Die Art und Weise, wie gerichtliche Entscheidungen der jüngsten Vergangenheit im medialen Diskurs kommentiert wurden, haben uns in der Themenwahl aber jedenfalls bestätigt.
So sorgte der Freispruch im Strafverfahren wegen mutmaßlicher Sexualdelikte an einer Zwölfjährigen in Wien für eine beispiellose Welle der Empörung. Ausgelöst von Berichten – nicht nur – in Boulevardmedien, die ein drastisches Bild von „monatelangen Misshandlungen in Parkgaragen und Stiegenhäusern“ zeichneten, wurden vor allem in den sozialen Netzwerken erbitterte Debatten höchst emotional geführt – eine sachliche Auseinandersetzung mit den materiell-rechtlichen Grundlagen der Anklage und den Verfahrensregeln, die diesem Urteil zugrunde lagen, war dabei allzu selten auszumachen.
Mit irritierender Selbstverständlichkeit wurde die Entscheidung des Schöffensenates als Fehl- oder Skandalurteil einer „Kuscheljustiz“ abgewertet, obwohl die Beweisaufnahme zu einem Großteil – so auch die Vorführung des Videos des außerhalb der Hauptverhandlung kontradiktorisch einvernommenen Mädchens – unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchgeführt wurde. Dass die Einvernahme „hinter verschlossenen Türen“ zwingend zum Schutz der Intimsphäre und der Persönlichkeitsrechte des minderjährigen Opfers erfolgte und in der mündlichen Urteilsbegründung aus demselben Schutzzweck keine Inhalte des nicht öffentlichen Teils der Verhandlung bekannt gegeben werden durften, wurde ausgeblendet. Der Umstand, dass die maßgeblichen Beweisergebnisse der Öffentlichkeit aus rechtlichen Gründen verborgen bleiben mussten, wäre in einem sachlichen Diskurs wohl Anlass für Zurückhaltung gewesen, im aufgeheizten Klima leistete dies jedoch Spekulationen, Missverständnissen und pauschalen Vorverurteilungen Vorschub.
Besonders irritierend war, dass die Empörung auch von der Politik nicht nur geduldet, sondern gezielt befeuert wurde – ohne erkennbares Bewusstsein dafür, dass damit das Ansehen der Justiz untergraben und politische Profilierung auf dem Rücken rechtsstaatlicher Prinzipien betrieben wurde.
Angriffe auf das Vertrauen in die Justiz sind aber nicht nur politischer Reflex oder symbolische Empörung – sie treffen eine Staatsgewalt, die sich aus Prinzip nicht mit gleicher Lautstärke und Vehemenz zur Wehr setzt, und der aufgrund knapper Ressourcen und gesetzlicher Rahmenbedingungen nur begrenzte Verteidigungs- oder Erklärungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Gerade wer politische Verantwortung trägt, sollte das beachten und sich nicht an einer entgleisten Rhetorik beteiligen, sondern dieser klar und entschieden entgegentreten.
Die Beteiligung von Politiker:innen an einer von jeglicher sachlichen Argumentation befreiten Urteilsschelte ist schließlich nicht nur aus rechtsstaatlichen Erwägungen bedenklich. Es ist auch unter dem Aspekt der Gewaltentrennung zu hinterfragen, wenn Regierungsmitglieder – als Teil der Exekutive – die Judikative nach einer Gerichtsentscheidung frontal kritisieren. Stellen Sie sich nur den umgekehrten Fall und die Reaktion der Politik vor, wenn etwa der Präsident des Obersten Gerichtshofes Maßnahmen der Landesverteidigung oder die Vorgangsweise einer Landesregierung in Fragen der Verwaltung öffentlich kritisieren würde.
Die öffentliche Empörung im Anlassfall entlud sich dann hauptsächlich am vorsitzenden Richter. Das ist kein Einzelfall, sondern Symptom eines beunruhigenden Klimas: Wenn Richter:innen, die auf Grundlage der geltenden Gesetzeslage über einen Sachverhalt urteilen und dabei Tag für Tag Verantwortung für den Rechtsstaat tragen, wüst beschimpft oder gar bedroht werden, ist das in jeder Hinsicht inakzeptabel – und zwar unabhängig davon, ob Desinformation, sogenannte Litigation-PR oder politisches Kalkül den Hintergrund dieser Angriffe bilden.
Solche Debatten zeigen aber auch, wie groß die Kluft zwischen der komplexen Realität von Gerichtsverfahren und ihrer verkürzten Darstellung in Öffentlichkeit und Medien sein kann. Gerichtliche Entscheidungen beruhen stets auf einer sorgfältigen Prüfung der Anträge und der Vorbringen der Verfahrensbeteiligten sowie auf einer gewissenhaften Beweiserhebung und der anschließenden Würdigung ihrer Ergebnisse. Auf dieser Grundlage erfolgt eine rechtliche Bewertung – auch in äußerst komplexen und zeitintensiven Verfahren. Diese Gründlichkeit lässt sich in der medialen Berichterstattung naturgemäß nur begrenzt abbilden.
In sozialen Netzwerken ist der Effekt noch gravierender: Informationen werden dort nur verkürzt, aus dem Zusammenhang gerissen oder gezielt zugespitzt verbreitet – nicht selten mit dem Ziel, Emotionen zu schüren oder eigene Meinungen zu verfestigen. Ein verantwortungsvoller Umgang mit solchen Inhalten würde jedoch kritisches Hinterfragen und die Fähigkeit erfordern, zwischen subjektiver Meinung und fundierter Information zu unterscheiden.
Angesichts der beobachteten Dynamiken könnte man resignieren. Doch genau das Gegenteil ist erforderlich: Die Justiz darf Falschinformationen, Hetze und gezielter Desinformation nicht das Feld überlassen. Wer Vertrauen erhalten will, muss sichtbar auftreten und verständlich erklären. Viele Menschen sind an objektiver Information interessiert – dieses Bedürfnis gilt es aktiv zu bedienen. Denn gerade in einer mediengetriebenen Demokratie kann sich die Gerichtsbarkeit Schweigen nicht leisten, wenn sie in ihrer Funktion nicht geschwächt werden soll.
Hier hat in den letzten Jahren bereits ein grundlegendes Umdenken eingesetzt. Medienstellen wurden ausgebaut, überregionale Kompetenzstellen mit Kommunikationsexpert:innen eingerichtet und der Austausch mit Schulen sowie anderen Bildungseinrichtungen intensiviert, um nur einige Beispiele zu nennen. Der Verlauf der aktuellen Diskussionen zeigt jedoch deutlich, dass weitere Schritte gesetzt werden müssen.
Um Fake News, Fake Law oder Fehlinformationen insgesamt wirksam zu bekämpfen und den Ruf der Justiz, aber auch ihre Mitarbeiter:innen, aktiv zu schützen, wäre es sinnvoll, die bereits in Grundzügen entwickelten Pläne für ein bundesweites Kommunikationsboard, das vor allem im Krisenmanegement professionelle Unterstützung bieten könnte, konsequent zu finalisieren. Gleichermaßen könnte die Schaffung einer unabhängigen und vertrauenswürdigen Instanz, die rechtliche Fragen zu tagespolitischen Ereignissen klar, verständlich und über jeden parteipolitischen Verdacht erhaben erklärt, dazu beitragen, der Eskalation öffentlicher Debatten entgegenzuwirken und dadurch das Vertrauen in den Rechtsstaat zu stärken.
Vor diesem aktuellen Hintergrund kommt dem Tag der Richterinnen und Richter 2025 eine besondere Rolle zu. Er bietet ein Forum, um konkrete Wege aufzuzeigen, wie Rechtsstaatlichkeit und richterliche Unabhängigkeit dauerhaft im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert werden können. Dass wir hier auf breite Unterstützung bauen können, zeigt die außerordentlich starke Resonanz auf unseren Wettbewerb, bei dem junge Menschen aufgerufen waren, sich kreativ mit den Themen Rechtsstaat und Demokratie auseinandersetzen. Zahlreiche eingelangte Beiträge (abrufbar über den Instagram-Account @Deshalb_Rechtsstaat) belegen eindrucksvoll, dass das Bewusstsein für rechtsstaatliche Werte in der Bevölkerung lebendig und präsent ist. Die besten Beiträge werden übrigens am ersten Tag unserer Festveranstaltung prämiert werden.
Wenn junge Menschen so klar Haltung zeigen, ist das aber auch mehr als ein ermutigendes Signal – es ist ein Auftrag, das Motto unserer Veranstaltung nicht auf seinen plakativen Titel zu reduzieren, sondern es gerade in herausfordernden Zeiten mutig und entschlossen mit Leben zu füllen.
Ich hoffe, die einleitende Frage dieses Editorials damit beantwortet zu haben:
Deshalb Rechtsstaat!
Gernot Kanduth