10/2025: Stefan Pfarrhofer „Wo wollen wir hin?“
Wir stehen vor tiefgreifenden Veränderungen. Ich möchte dieses Editorial zuerst für eine Vermessung dieser zu erwartenden Veränderungen nützen:
1. Der demografische Wandel
Ich habe mein Editorial in der RZ 03/20241) den Babyboomern gewidmet. Dort habe ich auf die Veränderungen innerhalb der Organisation aufmerksam gemacht, die mit der Pensionierung von Babyboomern einhergeht. Die Zahlen sind beeindruckend: Zwischen 2024 und 2036 werden 47,2 % der Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte den Ruhestand angetreten haben.2) Es gibt einzelne Dienststellen, bei denen diese Zahl noch viel höher ist, gerade das „Nachrücken“ auf Rechtsmittelgerichten, etc. wird dazu führen, dass es sehr viele Ernennungen und Abteilungswechsel, etc. geben wird. Da diese demografische Entwicklung auch den Verwaltungsdienst betrifft, werden sich ganz viele von uns innerhalb der nächsten 10 Jahre plötzlich unter völlig anderen Kolleginnen und Kollegen als vorher wiederfinden. Da die junge Generation eine andere Herangehensweise an Arbeit hat, wird sich sehr viel verändern. Unabhängig davon, ob diese Veränderung als positiv oder negativ betrachtet wird (ich selbst sehe viel Positives), bedeutet dies eine tiefgreifende Veränderung.
2. Der elektronische Akt
Er hat sich in unseren Arbeitsalltag geschlichen und ist geblieben; der elektronische Akt. Junge Kolleginnen und Kollegen werden bald gar keinen Papierakt mehr kennengelernt haben.3) Er hat unsere Art wie, wann und (oft sogar) wo wir arbeiten, völlig auf den Kopf gestellt. Es hat sich teils sogar verändert, was wir inhaltlich arbeiten. Vor allem das Zusammenspiel Kanzlei und Entscheidungsorgan ist davon betroffen. Am meisten fällt es auf, wenn man vergleicht, wie wir früher gearbeitet haben. Es gab das Einlauffach und die Diskussion, wie oft man es zu sichten hat. Man hat die Einlaufakten oft in der Kanzlei erledigt und dabei vieles informell klären können. Dies findet nun in gänzlich anderem Rahmen statt. Die Arbeitsweise hat sich vielfach – noch dazu in kurzer Zeit – stark verändert; auch dieser Umstand ist ein tiefgreifender Wandel.
3. KI
Im November 2022 wurde ein Chatbot, der sogenannte KI4) verwendet, vorgestellt: ChatGPT. Dieses Programm hat Aufträge, die man ihm erteilt hat, ganz einfach umgesetzt. Es hat sich alles plausibel und auch sehr kreativ angehört. Seither gibt es kein Ende in den Fantasien, wie die Entwicklung der Anwendung von KI weitergehen könnte. Eine Entwicklung betrifft dabei besonders unsere Berufsgruppe. In unserer Demokratie sind alle Gesetze und viele Entscheidungen online verfügbar. Damit findet KI ideale Trainingsgrundlagen dafür, bestimmte Sachverhalte so zu argumentieren, wie es die jeweiligen Nutzer:innen für die KI vorgeben. Die Nutzer:innen müssen dafür keinerlei Rechtskenntnisse haben. Sie müssen nur wissen, was sie möchten. Die KI kreiert daraus plausibel wirkende (wenn auch oft krass unrichtige) Schriftsätze. Diese Schriftsätze werden uns beschäftigen. Ich vermute bei manchen Schriftsätzen schon jetzt, dass diese mit Hilfe der KI erstellt wurden. Früher waren rechtliche Argumente in der Fachliteratur beschrieben. Man brauchte Vorkenntnisse, um diese zu interpretieren und lange Ausbildung, um diese anwenden zu können. Dies fordert die KI nun heraus. Trainiert man eine (bereits vortrainierte) KI mit einem Gerichtsakt, wird diese Zusammenhänge und Widersprüche erkennen können, die vorher eine lange Beschäftigung mit dem Akt erfordert haben. Zur Klarstellung: KI ersetzt uns nicht. Der Zugang zum Recht wird aber niederschwelliger; die sogenannten kernjuristischen Berufe verlieren ihre sogenannte Gatekeeper-Funktion. Wir werden uns darauf einzustellen haben.
4. Sparzwang
Auch wenn man zur Frage, ob es sich um eine Veränderung handelt, geteilter Meinung sein kann, so ist an dieser Stelle mE jedenfalls der aktuelle Sparzwang zu nennen. Im Editorial der letzten Ausgabe (Heft 09/2025) hat Maria Nazari-Montazer klar auf die gegenwärtige Herausforderung des Sparzwangs hingewiesen. Es ist das derzeit bestimmende Thema der Standesvertretung. Ich bin ihr für diese klare Aufarbeitung dankbar und verweise darauf. Ich weise nur im Lichte der aktuellen Diskussion darauf hin, dass die Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte bereits seit Jahren einen sehr großen Beitrag für das Budget leisten, weil sie trotz des gestiegenen Arbeitsanfalls den Betrieb in numerisch gleicher Besetzung aufrechterhalten!
5. Gesetzliche Veränderungen
Ein besonderer Vorteil unseres kontinental-europäischen Rechtssystems im Gegensatz zum angelsächsischen case law ist, dass die Gesetzgeber rascher auf Veränderungen reagieren können. Die Gesetzgeber haben in den letzten Jahren von dieser Möglichkeit auch umfangreich Gebrauch gemacht. Diese Änderungen in den Verfahrens- und Materiengesetzen machen eine ständige Anpassung erforderlich, vor allem weil mit den zuletzt erfolgten Novellen maßgebliche Verkomplizierungen einhergegangen sind und neue Zuständigkeiten geschaffen wurden.5)
6. Was tun mit diesen Erkenntnissen?
Wir haben auf diese Veränderungen unsererseits mit Anpassungen zu begegnen. Nur, welche Maßnahmen sind die Richtigen? Anders gesagt: Woran messen wir, welche Maßnahmen uns voranbringen und welche nicht?
Womit ich beim Titel dieses Editorials angelangt wäre: Wo wollen wir hin?
7. Wo wollen wir hin?
Für die Berufsgruppe der Richterinnen und Richter kann man es auch konkret so formulieren: Wie stellen wir uns die Richterin bzw den Richter im Jahr 2035 vor?
In einem Editorial kann keine Lösung dazu präsentiert werden. Ich halte (nur) fest, dass wir die Organe der Gerichtsbarkeit sind, die mit Unabhängigkeitsgarantie ausgestattet, die Staatsfunktion Gerichtsbarkeit vollziehen und damit den Justizanspruch iS Art 6 MRK/Art 47 Abs 2 GRC erfüllen; dies mit dem Ziel, Rechtsfrieden herzustellen.6) Damit ist bereits ein klarer Rahmen vorgegeben. In diesem System gibt es Raum für eigene Entscheidungen des Organs, der in der Welser Erklärung eine umfassende und allgemein anerkannte Behandlung gefunden hat.7) Diese Ethikerklärung behandelt insbesondere, wie wir uns im Selbstverständnis sehen und wie wir auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren.
Wir werden ein Umfeld brauchen, das es uns ermöglicht, dieser Aufgabe gerecht zu werden. Dazu gehört ein konkurrenzfähiges Gehalt samt Absicherung im Alter, die erforderliche Infrastruktur (Gebäude, Ausstattung, …) und eine gediegene Verwaltung. Im Jahr 2025 hat man sich auch darüber Gedanken zu machen, welches dem Berufsethos entsprechendes Ansehen in der Bevölkerung wir anstreben; wie drücken wir die Würde des Gerichts adäquat und sichtbar aus?
Ich bin überzeugt, dass in vielen dieser Fragen rasch Konsens gefunden und ein Ziel definiert werden kann. Es sollte uns im -Idealfall als Committent dafür dienen, welche Maßnahmen aufgrund der oben zitierten Veränderungen (und den daraus entstehenden Notwendigkeiten) auszuwählen sind. Nichts hält uns davon ab.
Gehen wir es an!
Stefan Pfarrhofer
1) Rz 2024, 53.
2) „Das Personal des Bundes 2024“, Seite 83, abrufbar unter oeffentlicherdienst.gv.at/publikationen.
3) Siehe zum Stand der Betriebsaufnahmen im Intranet „Aus- und Fortbildung / Wissen › IT – Informations- und Kommunikationstechnologie › Justiz 3.0“.
4) Künstliche Intelligenz; ob es sich dabei jedoch um „Intelligenz“ handelt, kann man mE mit guten Argumenten in Zweifel ziehen.
5) Siehe dazu zB richter-staatsanwaelte.goed.at/stellungnahmen-zu-gesetzesentwuerfen.
6) Jabloner, in Bewährungsfelder der richterlichen Unabhängigkeit, RZ 2022, 13 (18), hat dies so ausgedrückt: „Die Justiz als soziales System hat zwei komplementäre Aufgaben wahrzunehmen: Zum einen hat sie rechtliche Konflikte auf dem höchsten intellektuellen Niveau zu lösen, also den naiven Gerechtigkeitsanspruch mittels Hochleistungsjurisprudenz einzulösen. Zum anderen ist die Justiz – nicht anders als die Verwaltung – zur rechtlichen Erstversorgung der Bevölkerung berufen, sie hat rasch und effizient Rechtsfrieden herzustellen.“